Aufstehen
Er machte das nun schon seit Jahren. Immer läutete der Wecker pünktlich, so wie es sich gehörte. Er hätte aufstehen können, das Bad betreten. Dort den Wasserhahn aufdrehen, vielleicht ein wenig Musik aus dem alten Kofferradio. Die Morgentoilette halt, so wie man es gelernt hatte. Danach in die Küche, ein Tee zubreiten, vielleicht ein wenig Marmelade auf Weißbrot. Mit einem leichten Seufzen erheben, Mantel an, Tür zu. Aber so machte er das nicht. So hatte er das noch nie gemacht. Immer wenn der Wecker Krach schlug schaute er ihn im Halbschlaf an.
Er durchbohrte ihn mit seinem Blick, aber von alleine wollte er einfach nicht aufhören. Er horchte in seinen Körper, er fand die merkwürdigen Gefühle und sofort erschien ihm der Akt des Wachwerdens als Qual, als Strafe. Also aus mit dem Ding. Eigentlich war er jetzt wach. Wahrscheinlich nicht nur er, sondern auch sein Nachbar, der ihm neulich im Flur schon auf die langen tiefen, quäkenden Geräusche seinen Weckers aufmerksam gemacht hat. "Na, der ist ja laut, "sagte der Nachbarn, versuchte ein kumpelhaftes Gesicht zu machen, scheiterte aber, weil seine Augen böse blitzten. "Also das würde ich sofort senkrecht im Bett stehen. Der weckt ja Tote auf." Jaja, nur ihn nicht, also nicht richtig.
Er schlug also den Wecker aus. Was hatte er nicht alles schon probiert. Elektronische Wecker, die seelenlos piepten, alte mechanische, die einen Nacht mit ihrem Geticke in den Wahnsinn trieben, kleine lautlose Wecker, deren schwächliches morgendliches Getöne sofort den Gedanken an seine eigene Unfähigkeit herauf beschworen. Nein, ein Wecker musste einen netten, freundlichen, bestimmenden, aber keinen Befehlston haben. Auch Radiowecker hatte er schon ausprobiert. Der Verkäufer war völlig aus dem Häuschen als er ihm das sündhaft teure Gerät andrehte. "Da, " schrie er enthusiastisch, "die Temperatur. Auf das Zehntelgrad genau!". Seinen sarkastischen Einwurf, die gefühlte Temperatur sei ihm lieber und wertvoller, ignorierte der Verkäufer gelassen. Also hatte er zuviel Geld ausgegeben und erfreute sich morgens daran, dass er mit einem Blick erfassen konnte, wie kalt es morgens war. Zugegeben, im Sommer konnte es schon motivierend sein. Wenn der Wecker klingelte und er auf dem winzig kleinen Display "16 Grad" las, dann war das schon nicht schlecht. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Nach ein paar Monaten wurde es allerdings Herbst, und da war es unangenehm morgens "2 Grad", oder noch Schlimmeres zu lesen. Das änderte sich auch nicht als er das Gerät von "Celsius" auf "Fahrenheit" umstellte. So gut konnte er sich doch nicht betrügen und morgens wach zu werden und festzustellen, das die erste Handlung die man bewusst beging, ein Selbstbetrug war, verbesserte seine Laune nicht wirklich. Also beschloss er den Radiowecker, dessen Radio er nie benutzte, wieder weg zu sperren. Würde sicher irgendwann wieder wärmer.
Durch Zufall fand er dann den richtigen Wecker im Schlussverkauf bei Woolworth. Ein kleines armes Gerät, das man in die hinterste Ecke verbannt hatte, wie einen armen Hund, den man im Sommer an Autobahnraststätten aussetze. Er hatte fast das Gefühl, das der Wecker ihn auch mit diesem Blick anschaute. Ein verlorenes Ding, produziert und in die Welt gesetzt ohne Rücksicht. Er probierte ein wenig rum, und der elektronische Klang des Weckers versetzte ihn in Verzückung. Das war kein schlecht gelauntes Fiepen oder ein akustischer Stromschlag. Es war ein tiefer, harmonischer Klang, der das aus dem winzig kleinen Plastikkleid heraus kam. Ein warmes aber sehr lautes "Hallo, tut mir leid, aber muss sein." Er verliebte sich sofort in diesen Wecker, auch wenn eine Verkäuferin ihn zu einem sprach gesteuerten Monster überreden wollte.
Aber natürlich änderte sich nichts. Er machte den Wecker eine Spur zärtlicher aus, denn der Wecker konnte ja nichts dafür.
So lag er jeden Morgen da. Das nächtliche Gestrüpp aus Träumen und Angst ließ sich nicht in der ersten Wachperiode abstreifen. Also schlug er die Augen wieder zu und wartete. Meist schlief er wieder ein. Manchmal nur fünf Minuten, manchmal eine Stunde. Auf jeden Fall wurde er immer zu spät wach. Zu spät geruhsam ins Bad zu schlurfen, das Wasser aufzudrehen und sich geruhsam zu pflegen. Es blieb kaum Zeit für eine ausreichende Zahnpflege, aber die musste schon sein. Also hatte er angefangen seine Pflege in Schichten einzuteilen. Erster Tag: Rasur. Zweiter Tag: ausgiebige Haarpflege. Der Haarausfall wurde sicher auch nicht besser wenn er das brennende Zeug jeden Tag auf seine Kopfhaut schmierte.
Das hatte er sich antrainiert. Zum Frühstück reichte es nicht. Er kaufte sich seit Jahren jeden Morgen sein Frühstück in einer Bäckerei. Obwohl er sämtliche Verkäuferinnen mittlerweile kannte, begrüßten sie ihn immer wieder wie einen Fremden und es folgte die Frage "Was hätten sie gern?" Einmal hatte er gesagt "Wie immer", so wie in der Werbung dieses Kaffeerösters, aber das ging schief, und die Verkäuferin schaute ihn nur fragend an. Also dann doch "Ein Brötchen mit Schinken", und um die Schmach zu komplettieren kam dann die Frage "Mit Kochschinken, oder Rohen"? Kochschinken, was sonst, blöde Kuh. Das dachte er aber nur.
Allein der Gedanke wieder in diese Bäckerei zu müssen, ließ ihn morgens um 50 Kilo schwerer werden und die Luft um ihn herum um 20 Grad kälter. Konnte man bei diesen Zuständen von ihm verlangen aufzustehen? Sicher, er hätte einen anderen Bäcker genommen, wenn es denn einen gäbe auf seinem Weg zur Arbeit. Da gab es leider keinen mehr, es sei denn er würde einen weiten Umweg machen, aber dafür war keine Zeit.
Eigentlich, so dachte, kämpfe ich gar nicht mir sondern mit der Zeit.
Das ist ja lächerlich, dachte er. Mit der Zeit zu kämpfen. Ich kämpfe doch gar nicht mit der Zeit. Die Zeit ist mir völlig wurscht. das war in der Tat so. Der Mann hatte kein Verhältnis zur Zeit. Er hatte auch kein Verhältnis zur Müdigkeit oder zum Schlaf. Er schlief sehr schlecht. Wenn man es von außen betrachtete. Für sich betrachtet, schlief er halt dann und wann, unregelmäßig, immer nur dann, wenn er wirklich müde war. Nein, das war falsch. Er schlief dann, wenn ihm zu Augen zuklappten, er einfach den Abgrund überschritt und sich fallen ließ. Das machte er gerne. Dieses Gefühl im letzten Moment seines bewussten Lebens noch festzustellen, wie sich das Ego vom Körper löste und alles in ein tiefes Nichts fiel. Es war, als ob sich alles in immer mehr immer kleinere Einzelteile zerfiel, sein ganzes gedachtes Bewusstsein explodierte förmlich in Millionen kleinster Partikel.
Am Anfang, dann wenn man begann einzuschlafen, konnte man immer wieder Fragmente seines Bewusstseins auffangen. Sie splitterten aus dem Großen ganzen heraus und machten sich selbstständig. Es waren längst vergessen geglaubte Erinnerungen, verstaubte Bilder, manchmal eine kleine vergessene Trauer. Sie folge einfach rum und man musste sie nur einfangen, was leicht war. Und dann konnte man diese alten, fast toten Gedanken noch einmal leuchten sehen. Sie glitzerten hell, funkelten gaben Licht und Leben. Aber irgendwann verblassten sie wieder, fielen herab und plötzlich explodierte das "Ich" lautlos in seine Einzelteile und regnete herab. Man hatte keine Chance mehr, auch nur irgendetwas aufzufangen, denn nun schlief man ein, und warf sich seinen Gedanken hinter her, in das schwarze Nichts.
Was wohl passieren würde, wenn man mal nicht hinterher springen würde? Der Mann hatte das ausprobiert, aber es war schwer. Wenn das "Ich" weg war, wie konnte man da noch etwas beschließen? Er übte ein wenig. Monatelang. Er versuchte den Moment in dem alles verging, einzufrieren, die Stückchen seines "Ich" im Moment des Fallens zu stoppen. Es gelang ihm nicht. Das einzige was passierte, war, das die Millionen von kleinsten Teilen sich mühsam und schmerzhaft wieder in ihre Form begaben. Es dauerte of eine halbe Stunde und mehr, bis er sich wirklich sicher sein konnte, dass das lebensnotwendige wieder an seinem Platz war.
Manchmal verrutschte etwas, bei dieser erkämpften Neusortierung. Einmal wusste er plötzlich nicht mehr wo er war, und die Erinnerung gaukelte ihm vor, er sei in seinem alten Jugendzimmer im Elternhaus. Er stand verwirrt auf und sah tatsächlich die alten Wände, die fein verzierte Tür, doch als er vor ihr stand, war sie plötzlich nicht mehr da. Da war nur eine Wand, und für einen Moment dachte er, seine Eltern hätten ihn endgültig eingemauert, so wie seine Mutter, das immer damals angedrohte, wenn er was verbrochen hatte, oder nicht aus dem Bett kam. Er bekam Panik, wimmerte, haute gegen die Wand, rief nach seinen Eltern. Erst langsam wurde ihm gewahr, das alles nicht real war, und nachdem er den Schock überwunden hatte, beschloss er seine Experimente zu beenden.
Aber nachdem der Schock ein wenig verblichen war, traute er sich doch wieder ran. Das Gefühl zu spüren, wie das eigene Bewusstsein plötzlich unwichtig wurde, wie alles sich in eine bestimmte Art der Lächerlichkeit auflöste, war zu verlockend. Was war man schon, dachte er oft, wenn man schlief. Man war ein Nichts. Ein Haufen Fleisch, ohne Willen, ohne Namen, ohne Wünsche, ohne Hoffnung. Das eigene "Ich" entpuppte sich als Hypothese, deren Wahrheitsgehalt nicht messbar war.
Auch etwas Bedrohendes lag in dem Gedanken. Wenn man einmal "Nichts" war, wie kann man dann am nächsten Morgen wieder wach werden, und so tun, als ob nichts gewesen sei?
Das war das bedrückende am Wach werden. Nichts passierte langsam, man konnte die kleinen Diamanten an Gedanken nicht aufangen, konte nicht spüren wie sich ales wieder zu einanderfügte, wie man das Gefühl des "Ich" wieder einlebte. Man wurde wach, war etwas träge, sich aber sehr sicher, das man derselbe war, der Abend die Augen geschlossen hatte. Ein langweilige, eine beschämend einfache Prozedur. Als ob man einen Stromschalter betätigt. Ping - man war wieder das "Ich". Alles war wieder an seinem Platz.
Ob der Tod so funktionierte? Ob einfach die Gedanken sich in alle Richtungen zerstoben und der einzige Unterschied zum Leben der war, das es sich nicht mehr zusammen fügte?
Noch einmal qäukte der kleine Wecker. Heute musste er sich nur rasieren, Das bedeute das er fünf Minuten weniger im Bad sein musste. Der Mann beschloss die Augen noch einmal für eine Zeit zu schliessen.